Reuchlins Lebensweg 1455-1522

Ein wenig Hintergrundwissen am Rande …

DE RUDIMENTIS HEBRAICIS

Lehrbuch der hebräischen Sprache

DE ACCENTIBUS ET ORTHOGRAPHIA LINGUAE HEBRAICAE

Schreibweise und Akzentsetzung in der hebräischen Sprache

KABBALA

Reuchlins »Kabbalistik«, ein literarisches Vermächtnis
1517 veröffentlichte Reuchlin »Die Kabbalistik« (lateinisch »De Arte Cabbalistica«), ein anspruchsvolles, Papst Leo X. gewidmetes literarisches Werk. In deutscher Übersetzung ist es erst seit 2010 verfügbar.
Reuchlins Idee zu diesem – aus seiner Sicht zentralen – Werk bestand darin, das humanistische Anliegen in eine literarische Form zu kleiden, die Botschaft quasi »durch die Blume« zu vermitteln. Sein Interesse an der jüdischen Mystik, der »Kabbala«, stellte er ins Zentrum eines Gesprächs dreier Menschen aus verschiedenen Ländern, die er auf eine imaginäre Forschungsreise schickte: einen liberalen Muslim aus Istanbul, einen griechischen Philosophen und einen Juden aus Frankfurt am Main. Im Trialog erkundeten diese drei die »gemeinsame Urtradition der großen Religionen« (Gershom Scholem, 1969), verglichen die ethischen und religiösen Perspektiven von Judentum, Christentum und Islam.
Den Auftritt seiner Figuren auf der Bühne der Handlung organisierte Reuchlin wie auf dem Theater (mit dem er als Autor der Komödie »Henno« ja vertraut war). Gleich in der ersten Szene thematisierte der Verfasser bekannte Feindbilder und deren Abbau durch Bearbeitung im Dialog. Als unstrittigen Helden präsentierte er den imaginären Kabbalisten Simon, einen Bewohner des jüdischen Ghettos in Frankfurt. Mit dieser Figur führte Reuchlin das Ideal des gebildeten Juden in die europäische Literatur ein – rund 250 Jahre bevor Gotthold Ephraim Lessing 1779 sein Theaterstück »Nathan der Weise« schrieb.

Christoph Timm, Reuchlin, Wegweiser der Völker, in: Jüdisches Leben im Nordschwarzwald, 2021

DER AUGENSPIEGEL

Dramatischer Höhepunkt in Reuchlins Leben ist der Streit um die Bücherverbrennung. Warum ist dieses Ereignis bis heute unvergessen? Johannes Pfefferkorn, ein getaufter Jude in Köln, versucht zu Reuchlins Zeit, seine ehemaligen Glaubensbrüder missionarisch zu bekehren. Er setzt dabei zunächst auf das neue Medium der antijüdischen Kampfschrift. Die judenfeindliche Kampagne wird vom Dominikanerorden und von den Professoren der theologischen Fakultät der Universität Köln entscheidend unterstützt und gefördert. Auf Drängen von Pfefferkorn ordnet Kaiser Maximilian 1509 an, gegen die jüdischen Religionsgemeinden in Frankfurt, Mainz und Worms vorzugehen: Pfefferkorn darf ihre religiösen Bücher beschlagnahmen. In einem zunächst vertraulich an Kaiser und Reichskanzler gerichteten Gutachten bezieht Reuchlin 1510 Position für die Juden und ihre Literatur.
Wie sich bald zeigt, steht er mit dieser Haltung allein gegen die theologischen Gutachter namhafter Universitäten wie Köln und Heidelberg.
Herausgefordert von einer antijüdischen Schmähschrift seines Gegenspielers Pfefferkorn, lässt er sein Gutachten unter dem Titel »Augenspiegel« in deutscher Sprache drucken und im Herbst 1511 auf der Messe in Frankfurt verbreiten: Er macht seinen Standpunkt öffentlich und will, dass die Leser sich ihr eigenes Urteil bilden. In dieser auf Deutsch und Latein verfassten Schrift »Augenspiegel« tritt Reuchlin der allgegenwärtigen Judenfeindschaft entgegen: Er stellt sich als christlicher Experte des Hebräischen schützend an die Seite der Juden und ihrer Literatur, begegnet Vorurteilen mit Argumenten und spricht sich gegen die Anwendung von Gewalt aus: Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!
Seine einflussreiche Position als Rechtsgelehrter und Staatsmann nutzt er auch, um an die im kaiserlichen Recht verbriefte Gleichstellung der Juden als Bürger zu erinnern: Man soll sie im Rahmen des geltenden Rechts ihre Religion ausüben lassen.
Das selbstlose Engagement für eine verfolgte Minderheit setzt an der Schwelle zur Neuzeit ein bis heute nachwirkendes Zeichen. Die Nachwelt verbindet Reuchlins Namen mit den humanistischen Werten Toleranz, Freiheit des Denkens und Verständigung durch Dialog. 

Christoph und Sonny Timm, in: Ausstellungsbegleitbuch Museum Johannes Reuchlin, 2012

ANWALT DER MENSCHENRECHTE

Mit dem »Augenspiegel« schuf Reuchlin 1511 eine mutige, kraftvolle, nachhaltige Gegenerzählung zu den allgemein verbreiteten herabwürdigenden Darstellungen von Juden als minderwertigen Dienern und erbitterten Feinden der Christenheit. Den Hasspredigern setzte er das Prinzip von Respekt und Dialog entgegen, Vielfalt schilderte er nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung. Mit diesem Standpunkt zog Reuchlin die Konsequenz aus der gewonnenen Überzeugung, das Judentum müsse als kultureller Beitrag zum Renaissance- Humanismus wertgeschätzt werden. Sein »Augenspiegel«, das Ergebnis eines eigenen Lernprozesses, sollte zum Fanal werden:
Unerwartet geriet Reuchlin in die Pionierrolle eines Anwalts, der uneigennützig und unmissverständlich für die Rechte einer diskriminierten Menschengruppe eintrat. Er nannte eine bislang verkannte Wahrheit beim Namen und stieß eine kontroverse Debatte an – das war ein Meilenstein auf dem Weg zu Toleranz und Aufklärung. Doch noch war die Zeit nicht reif für solche Ideen.

Christoph Timm, Reuchlin, Wegweiser der Völker, in: Jüdisches Leben im Nordschwarzwald, 2021